Das Kreuz – zur Erlösung oder nur zur Vergebung?

Gedanken zum Sühnetod und seinen impliziten Denkmustern

Letzte Überarbeitung 05.02.2020

Am Kreuz hat Jesus für mich bezahlt. Für meine Sünden, für meine Schuld. Weil er an meiner Stelle in den Tod gegangen ist, deswegen vergibt mir Gott und ich kann leben. Durch den Tod am Kreuz hat sich Gott wieder mit den Menschen versöhnt und bietet allen Vergebung an. Diese Sätze unterschreiben wohl die allermeisten Christen. Ja, das Kreuz ist der Ort, wo Jesus auch wegen meiner Schuld verurteilt wird und stirbt. Das Kreuz wird zum Synonym für Vergebung.

Wo liegt denn da jetzt ein Problem?

Das Kreuz wird zum Synonym für Vergebung. Damit wird auch die Versöhnungstat am Kreuz zu einer Vergebungstat. Reduziert auf eine Vergebungstat. Und das führt dann zu einigen schwerwiegenden Verschiebungen im Verständnis des Versöhnungswerks. Man könnte denken,

1. dass das Hauptproblem im Verhältnis zwischen Gott und den sündigen Menschen darin besteht, dass Gott nicht wirksam vergeben kann und er aus diesem Grunde die Versöhnungstat Jesu braucht

2. dass Gott ein unschuldiges Todesopfer benötigt, um überhaupt Schuld vergeben zu können. Das ist recht Moloch-ähnlich und wirft erhebliche Fragen zum Charakter Gottes auf! Viele haben deswegen ein Problem mit dem Sühnegedanken innerhalb der Versöhnungstat an sich. Gibt es denn nicht auch genügend Bibelstellen, bei denen Gott ohne Bezug zum Kreuz vergibt?

Das Kreuz, das Blut, der Tod Jesu dient zur Vergebung der Schuld. Das ist bekannt, das ist in der Breite angekommen, das ist präsent.

Fragt man jedoch nach „Erlösung“, was dieser theologische Begriff denn meint, so ruft man erstmal ein etwas intensiveres Grübeln hervor und stößt dann auf ziemlich unklare Vorstellungen mit einer gewissen Bandbreite an Antworten – auch bei langjährigen Christen. Wovon hat uns Jesus denn erlöst?

Häufig ist die Antwort, die eigentlich identisch ist mit dem Begriff der Vergebung: Jesus hat uns von unserer Schuld erlöst. Das ist auch die einzige Antwort, die mit dem Kreuz und dem Sühnetod in direkte Verbindung gebracht werden kann, ja mit diesem gleichbedeutend ist. Als weitere Antworten kann man noch hören: Von der Macht der Sünde, von der Macht des Bösen/des Teufels. Noch nie habe ich allerdings gehört: vom Gesetz. Paulus schreibt jedoch in Gal. 3,13 interessanterweise: Christus hat uns erlöst vom Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns.

Ich stelle fest, dass wir real-existierenden Christen etwas diffuse Vorstellung davon haben, was unter dem Begriff der „Erlösung“ verstanden wird und wie diese auch mit dem Kreuz zusammenhängt. Das ist umso bedauerlicher, weil die Evangelisten den Tod Jesu mit dem Thema der Erlösung verbunden habe…

…gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele (Matth. 20,28).

Auch bei Paulus ist mit dem Blut primär der Begriff der Erlösung verknüpft, erst dann der der Vergebung:

In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden (Eph. 1,7).

Dieser Beitrag soll der Frage nachgehen, was Erlösung eigentlich ist. Und vielleicht kann der Text dann auch bekannte Problemstellen mit dem Sühnopfer aus dem Weg räumen. Wozu brauchte Gott das Kreuz? Und zwar liegt hier jetzt der Schwerpunkt auf der Erlösung vom Gesetz. (Zur Erlösung von der Macht der Sünde und Todes siehe nächster Beitrag.)

Eine Geschichte vom Menschen und dem Gesetz

Vor dem Anfang der Geschichte war einmal der allmächtige Gott. Der sagte zu seinem Sohn: Lass uns Menschen machen, aber nicht einen programmierbaren Roboter, sondern ein Wesen das uns gleich sei. Ein Wesen mit der Freiheit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen. Sohn, mach dich ans Werk. Da sagte der himmlische Rat aus seinen heiligen Engeln: Das mit den Freiheitsgraden für den Menschen ist aber ein erhebliches Risiko. Was ist wenn der Mensch Schlimmes anrichtet und sich sogar gegen dich stellt? Da sagte Gott: Ja, wir müssen dem begegnen. Ich mach ein Gesetz, in dem sind alle meine Forderungen an den Menschen enthalten, und wer es übertritt, der kommt in den Tod und muss sterben. Er kommt dort auch nicht mehr heraus – es sei denn, ich bin ihm gnädig und vergebe ihm. Erarbeiten kann er meine Gnade nicht.

Da schuf der Sohn den Menschen und gab ihm alle möglichen Freiheiten, nur nicht die Freiheit gegen Gottes Gesetz zu verstoßen. Aber der Mensch hielt sich nicht daran und missbrauchte seine Freiheit. Als Antwort darauf begrenzte Gott erstmal seine körperliche Lebenszeit und setzte seine Seele danach im Totenreich fest.

So vermehrten sich die Menschen weiter und weiter, aber sie hörten nicht auf, ihre Freiheit zu missbrauchen und ärgerten Gott ganz massiv, sodass er es ihn gereute, dass er die Menschen hatte schaffen lassen und sich sagte: Die Menschen haben nicht nur mein Gesetz verletzt, sondern sich auch als Person charakterlich derart zum Schlechten entwickelt. Ich will das Projekt Mensch wieder einstampfen. Doch sein Sohn, der ja alles geschaffen hatte, sagte: Halt ein, halt ein. Wir haben ja noch einen Joker: Wir sagen den Menschen jetzt ganz explizit, wie dein Gesetz aussieht. Und wenn sie es dann einhalten und nicht sündigen, dann kannst du sie ja auch wieder aus dem Totenreich holen.

Und Gott macht das so. Er löschte die Menschen nicht komplett aus und gab dem überlebenden Rest sein Gesetz in expliziter Form. Er sagte zu ihnen: Jetzt wisst ihr, was Sache ist. Jetzt kommt es wirklich auf euch an. Wenn ihr es einhaltet, dann dürft ihr leben, wenn nicht, dann nicht. Doch die Menschen hielten auch dieses Gesetz nicht und Gott vergab ihnen wieder und wieder, sogar eine Generalabsolution jährlich – ganz bedingungslos.

Irgendwann war Gott dann so genervt, dass er zu seinem Sohn sagte: Ich habe jetzt keine Lust mehr, immer wieder zu vergeben und zu vergeben und die Menschen ändern sich einfach nicht. Sie sind nicht erziehbar. Mein Gesetz ist einfach eine Nummer zu groß, es ist ein Problem für sie, sie sind charakterlich nicht in der Lage, es zu halten. Und bei denen, die mein Gesetz nur in ihrem Gewissen haben, ist es auch nicht besser. Wir müssen das Projekt Mensch doch wieder einstampfen. Es ist hoffnungslos, selbst wenn ich gnädig bin, ihnen vergebe und sie damit vor dem sicheren Tod bewahre, ändert das nichts mehr. Im nächsten Augenblick sind sie wieder straffällig.

Kannst du nicht einfach auf das Gesetz verzichten?, sagte der Sohn. Nein, denn das würde ja das Gleiche bedeuten, dass ich mich von Ihnen entfernen müsste und damit wären sie auch erledigt, sagte Gott, gerade jetzt wird das Gesetz benötigt, dringender denn je, so wie die drauf sind!

Tja, sagte der Sohn, ich sehe ein, dass du in dieser Situation das Gesetz nicht einfach abschaffen kannst. Dann gibt es wohl nur noch einen Joker. Damit lassen sich die Menschen vor der Verlorenheit retten: Mich. Ich muss in Vorleistung gehen, während diese alle noch feindlich drauf sind. Ich lass mich für alle verurteilen, dann ist diesem Gesetz Genüge getan. Und dann kann ich nicht nochmals verurteilt werden. Und die für die Menschen, die von mir angenommen werden, gilt das dann auch. Das Gesetz ist dann kein Problem mehr für sie und ich kann ihnen vergeben, sooft ich will.

Ja, sagte Gott, können wir machen. Allerdings muss es dir bewusst sein: Wenn dieser stellvertretende Sühnetod rechtlich funktionieren soll, dann begibt du dich in die Gewalt des Todes – und das ganz zurecht. Du wirst dich daraus nicht mehr selbst befreien können, du wirst auf meine Gnade angewiesen sein, dass ich dich da wieder heraushole. Ich muss dazu von den Sünden der ganzen Welt absehen.

Ich vertraue auf dich, sagte der Sohn.

Und da gibt es noch ein Problem, sagte der Vater. Du kannst den Menschen zwar ständig vergeben, aber sie ändern sich dadurch ja auch nicht. Dann hast du das Problem, denn du bist ja auch Gott und so heilig und gerecht wie Gott. Der Fluch des Gesetzes ist zwar weg, aber die Forderungen an sich sind ja noch da.

Auch da habe ich eine Lösung, sagte der Sohn. Wenn du mich wieder aus dem Tod holst, dann gebe ich den Menschen Anteil an meinem Leben und verändere sie charakterlich von innen her. Das ist ja dann ein Leben, das nicht mehr in den Tod kommen kann und die Forderungen des ursprünglichen Gesetzes erfüllen kann. Es kommt dann nicht mehr auf die Menschen an, ich gebe ihnen alles aus Gnade.

Und so geschah es. Durch das Kreuz –  „es ist vollbracht“ – wurde die Erlösungsordnung in Kraft gesetzt.

Ist die Schuldentilgung das Hauptproblem?

Es erscheint mir nicht vernachlässigbar, ob man glaubt, dass Gott grundsätzlich bedingungslos vergeben kann oder nicht – und es im AT bereits auch tat. Denn wenn man das nicht glaubt oder sich nicht sicher ist, dann verbleibt in diesem systematisch-theologischen Modell für eine echt wirksame Vergebung nur der Sühnetod als Ausgleichsleistung übrig. Daraus folgt dann zwingend, dass Gott nur gegen den Tod seines unschuldigen Sohns wirklich vergeben könne. Gott braucht dann zur Vergebung ein Todesopfer. Ein solche Vergebungs-Logik zeigt deutliche Parallelen zu heidnischen Opferriten und wirft erhebliche Fragen zum Charakter Gottes auf!

Selbst wenn man anführt, dass es ja Gott selbst sei, der sich opfert und dass seine Liebe die Initiative ergriff und Gottes Zorn nicht erst durch ein Opfer besänftigt werden musste. Auch wenn gesagt wird, dass es der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes geschuldet sei, der Sünde richten muss und nicht einfach vergeben könne. – Wenn man den Opfertod nur zur Vergebung versteht, verbleibt die Funktion des Opfertods Moloch-ähnlich: Gib Tod eines unschuldigen Kindes rein -> hole Vergebung raus.

M. E. hat die christliche Theologie damit unbewusst Züge mancher heidnisch-religiöser Opferverständnisse übernommen. Denn es wird ja dann auch angenommen, dass durch den Opfertod die Sünden der Welt komplett getilgt/gesühnt/ausgeglichen werden. Jesus nimmt die Sünden mit in den Tod, ins Grab und dort bleiben sie dann.

Eine verkürzte Heilslehre

Mit dem Verständnis der Sühne im Opfertod Jesu als eine Art von Ausgleichsleistung  werden auch die Errungenschaften des Neuen Bundes massiv verkürzt. Als das Hauptproblem im Verhältnis zu Gott wird unsere Schuld angesehen. Jesu Tod ist dann die Antwort auf die Schuld aufgrund von Tatsünden. Damit wird der neue Bund auf eine Vergebungsordnung reduziert. Er gleicht dem Alten Bund – nur mit Einmalopfer und Dauervergebung, die man am Kreuz bei Jesus bekommen kann.

In diesem Heilsverständnis wird Jesu Auferstehung gar nicht zwingend benötigt, denn das Kreuz leistet ja alles, was für die Versöhnung benötigt wird. Sie würde auch funktionieren, wenn Jesus im Grab geblieben wäre. Die Auferstehung steht irgendwie unmotiviert daneben, ist nicht verlinkt. Röm. 4,25 hätte Paulus dann auch verkürzt schreiben können: …welcher um unserer Gerechtigkeit willen dahingegeben wurde. Und Ende. Es fehlt dann ein gesamthaftes Verständnis des Neuen Bundes mit den beiden Elementen Kreuz und Auferstehung.

Das Hauptproblem und seine (Er-)lösung

Ich denke, bereits aus der oben ausgeführten Geschichte wird ein Unterschied zum üblichen Verständnis der Versöhnungstat deutlich.

Das Problem ist nicht, dass Gott nicht bedingungslos vergeben könnte, sondern dass er ständig vergeben muss!

Gott vergibt bereits im AT rechtswirksam und vollgültig. Lobe den Herrn, meine Seele…der dir alle deine Sünde vergibt…usw. Ps. 103.

Nicht die Schuld aus Tatsünden ist das eigentliche Problem. Sie kann auch vergeben werden und nur vergeben werden. Das eigentliche Problem ist mein Charakter, dass ich das Gesetz Gottes nicht erfüllen kann und daher dem Tod verfallen bin, solange mich dieses Gesetz verurteilen kann. Aus dieser Situation herauszukommen wäre eine wirkliche Erlösung, die diesen Namen auch verdient!

Vergebung hatte der Mensch bereits, der Mensch braucht aber Erlösung – und zwar aus diesem ganzen Zusammenhang Gesetz->Übertretung/Sünde->Strafe/Tod. Er braucht Erlösung aus einem Gesetzesrahmen, den er nicht erfüllen kann und immer wieder die Latte reisst. Er braucht Erlösung aus der Heilsordnung des Alten Testaments (AT), aus der Heilsordnung des Gesetzes.

Vor dem Hintergrund dieser so verstandenen Problematik erhält das Kreuz mit dem stellvertretenden Sühnetod eine ganz andere Erklärung im Heilsgeschehen. Die Versöhnungstat am Kreuz wird dann nicht reduziert auf eine Vergebungstat, sondern wird zur Erlösungstat, nämlich zum Loskauf der Menschen aus der für sie ungünstigen Heilsordnung des AT.

Die Erlösung vom Gesetz durch den Neuen Bund

Nun hat die Menschwerdung Jesu, sein Leben, Leiden und Sterben und seine Auferweckung in ein neues Leben die Erlösungsordnung geschaffen.

Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen (Matth. 5,17)

Dieses Jesuswort kann jetzt falsch verstanden werden, als sei das Gesetz mit seinen Forderungen und den Konsequenzen bei Übertretung desselben nach wie vor ein Teil des Neuen Bundes. Dem ist aber gerade nicht so. Durch das Kommen des Erlösers wurde das Zeitalter des Gesetzes beendet und ein Zeitalter der Gnade eröffnet. Paulus schreibt davon, dass Christus des Gesetzes Ziel und Ende ist (Röm. 10,4).

Wie geht das von statten? Durch zwei Aktionen: Durch Kreuz und Auferstehung.

Erstens leistet Jesus den Forderungen des Gesetzes Genüge durch seinen Tod am Kreuz. Er lässt sich für alle denkbare Gesetzesübertretungen verurteilen und tritt die Todesstrafe an. Er wird jedoch wieder angenommen und auferweckt.

Im hier vorgestellten Verständnis werden durch den Tod Jesu allerdings nicht sämtliche Übertretungen aus dem Gesetz abbezahlt. Mit dem Tod alleine werden keine Schulden abbezahlt. Die Handlungsrichtung am Kreuz folgt der gleichen Logik Sünde->Tod. Sie wird nicht in eine Logik Tod->Vergebung umgekehrt.

Vielmehr liegt der Fokus auf der Kontinuität der Person Jesu. Denn der am Kreuz verurteilte ist ja dieselbe Person wie der Auferstandene. Der Sohn ist bereits für sämtliche Übertretungen veurteilt und kann daher nicht nochmals verurteilt werden. Und das gilt dann für alle, die von ihm als sein Eigentum angenommen werden und somit in den Rechtsrahmen seiner Person hineingestellt werden.

Innerhalb der Erlösungsordnung des Neuen Bundes ist daher die Verurteilung bei Gesetzesübertretung grundsätzlich kein Thema mehr. So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Röm. 8,1. (vgl. 1. Joh. 2,1.2).

Mit seinem Tod zahlt Jesus das Lösegeld zur unserer Herauslösung aus der alten Rechtsordnung in die neue. Aus der Gesetzeshaushaltung des AT in die Gnadenhaushaltung des NT. Mit Golgatha tritt das Neue Testament in Kraft: Es ist vollbracht. Die Auferweckung erfolgt durch den Vater.

Damit lösen sich die schwierigen Anfragen zum Charakter Gottes in Luft auf.

Das ist aber nicht alles. Die Forderungen des Gesetzes an sich, ein Leben der Liebe zu Gott und den Mitmenschen zu leben, bestehen ja nach wie vor, jedoch nicht in Form eines Gesetzes. Allein durch den Loskauf vom Gesetz können wir diese nicht erfüllen.

Nun gibt uns Jesus Anteil an seinem neuen Auferstehungsleben und erfüllt so das ehemalige Gesetz in uns, ja er geht sogar darüber hinaus (Röm. 8,3.4).

Dieses Leben ist das einzige Leben, das vor Gott als gerecht gilt und mit Gott versöhnt ist. Die Auferstehung gehört daher wie das Kreuz zwingend zur Erlösungsordnung des Neuen Testaments dazu. Daher beendet Paulus in Röm. 4,25 seinen oben angeführten Satzanfang: …und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt.  Die uns zugerechnete Gerechtigkeit nimmt ihre Grundlage aus dem Leben des Auferstandenen und nicht alleine aus dem Kreuzestod.